angst i - ix

Der Zyklus angst i – ix entstand aus dem Material und den Erlebnissen meiner einjährigen Reise durch Zentral- und Ostasien und durch die Russische Föderation in 2023/24. Länder und Regionen, in denen aus unterschiedlichsten Gründen Angst deutlich spürbar war. Orte, an denen die Menschen Angst hatten frei zu sprechen. Orte, an denen die Repression des Staates offensichtlich war. Orte, die die Angst vor Krieg zeigten.

Zu jedem Angstraum entstand aus field recordings eine Miniatur.
Mal drückt sie die politische Repression aus, mal zeigt sie fast dokumentarisch Eindrücke vor Ort, mal entsteht eine Atmosphäre die diametral zum Text steht.

Aufnahmen an Bahnhöfen und Zugfahrten in Usbekistan sowie von der Grenzkontrolle im Zug während der Einreise aus Kasachstan. Überfüllte hallige Räume, Störgeräusche, vermeintliche Stille im Zug, Grenzbeamte.
7:54

Marschmusik der Militärparade, das Büro für Sondergenehmigungen zur Reise in Autonome Gebiete und an die Grenze zu Afghanistan, Tacht-I-Sanghin im afghanischen Grenzgebiet, Salutschüsse zum Unabhängigkeitstag.
6:46

Aufnahmen von einem kleinen Markt in Ürümqi mit Gesprächen und Anpreisungen durch die Händler:innen. Immer wieder und immer mehr durchbrochen durch Han-chinesische Musik, die im öffentlichen Raum erklingt.
5:14

Aufnahmen von den Sicherheitschecks beim Zugang zum Barkhor Platz im Zentrum von Lhasa. Funkgeräte und Ansagen auf Mandarin. Gebete von Pilgern, Glocken des Maytreya-Tempels.
7:12

Aufnahmen aus Restaurants, unter Brücken, von Spielern, aus der Verbotenen Stadt, aus einem Gulli.
8:48

Aufnahmen von Alltagsszenen. Uferpromenade, Zuschauermassen nach einem Festival, Parks, Malls. In regelmäßigen Abständen ausgelöscht durch Noise (Aufnahmen von Lüftungen u.Ä.).
7:30

Aufnahmen vom Wachwechsel im Chiang Kai-shek Memorial, aus Malls, Parks, von Märkten, Spielhallen, aus Tempeln.
3:38

Aufnahmen vom Checkpoint bei der Ein- und Ausfahrt zur Demilitarisierten Zone, Einschließen aller Habseligkeiten vor dem Infiltrationstunnel.
3:44

Aufnahmen aus der Transsibirischen Eisenbahn, vom Baikalsee, aus Orthodoxen Kathedralen, vom Roten Platz.
9:15

angst i
Usbekistan.
Ich sitze in einem Zug. Mit mir im Abteil zwei russische Touristinnen und ein Karakalpake. Karakalpakistan ist eine autonome Republik im Westen Usbekistans. Die Stimmung ist gut. Wir tauschen uns aus, hören zusammen Musik. Dann frage ich nach Interviews für mein Projekt. Die beiden Russinnen stimmen gleich zu. Der Karakalpake winkt ab. Die eine Russin versucht ihn zu überreden, ich empfinde es als zudringlich, wehre auch ab. Aber sie lässt nicht locker. Der Mann ist sehr freundlich, also stimmt er notgedrungen zu. Sie fragt ihn auf russisch meine Fragen, er antwortet auf Karakalpak. Sie ist enttäuscht, dass er fast keine Antwort gibt. Ein Foto zur Erinnerung lehnt er vehement ab.

angst ii
Tadschikistan.
In Chudzhand sehe ich eine Militärparade. Als sie sich auflöst will ich hindurchgehen, den Klang aufnehmen. Ein Mann in Zivil mit Anzug spricht mich skeptisch an: Journalist? Tourist, antworte ich. Er beobachtet mich weiter bis er in einem Gebäude verschwindet.
In Duschanbe sehe ich wie ein Polizist bei einer Straßenkontrolle immer wieder den Fahrer auf den Hinterkopf schlägt. Der Fahrer, ein imposanter Tadschike, duckt sich, wartet, dass es aufhört.
Bei einem Interview, dass ich im Pamirgebirge führe spricht mir ein Farmer als Zusatz ein, dass der Präsident ein guter Präsident ist und sich sehr um sein Volk kümmert. Ohne Bezug zum Interview.

angst iii
Uigurisches Autonomes Gebiet Xinjiang.
An den großen Straßenkreuzungen in Kashgar und Urumqi stehen gepanzerte Fahrzeuge des Militärs. Zwei Soldaten stehen Rücken an Rücken, Maschinenpistolen parat. Überall in den Straßen kontrollieren Polizisten Männer. Sie halten sie an, der Ausweis wird verlangt, abfotografiert, kontrolliert. Dann das Smartphone nah vor das Gesicht gehalten, Foto, Abgleich. Auf dem Weg zur Arbeit, zum Einkauf. Dauernd.
Ich komme eine Gasse entlang. Zwei Polizisten rufen mich an. Als ich auf englisch antworte darf ich weiterziehen.
Und nehme wahr, dass mir nicht nur die Nackenhaare zu Berge stehen.

angst iv
Autonomes Gebiet Tibet.
Auch in Lhasa gibt es eine hohe Polizeipräsenz. Wenn ich auf den Platz um den Jokhang Tempel im Zentrum Lhasas gehen will muss ich wie alle Menschen durch eine Polizeikontrolle. Der Ausweis wird geprüft, Die Taschen durchleuchtet. Als wir zu einem Kloster außerhalb Lhasas fahren, sehe ich immer wieder Militärkolonnen.
Ich frage Menschen, mit denen ich näher im Kontakt stehe nach Interviews. Über Tage fragen sie mich immer wieder, ob ich ein Journalist sei. Bis sie mir vertrauen und mir meine Fragen zu meinem Projekt beantworten. Eine Person erzählt mir später ihre Lebensgeschichte. Berichtet von „Befragungen“ durch Sicherheitskräfte, die bis heute anhalten. Als sie es mir erzählt, fragt sie vorab, ob ich nicht aufnehme, das Handy ausgeschaltet sei.

angst v
China.
Um auf den Platz des Himmlischen Friedens zu dürfen muss man sich vorab online ein Tickt holen. Er ist von Sicherheitskräften abgeriegelt.
In allen Städten, in denen ich gewesen war, gibt es unzählige Kameras zur Überwachung. An jeder U-Bahn Station gibt es Security checks, ebenso an den Bahnhöfen. Während einer Zugfahrt führe ich ein Interview mit einer jungen Frau, die Mitglied der Kommunistischen Partei sei, so sagt sie. Auf meine Frage nach den politischen Einflüssen antwortet sie, davon verstehe sie nichts, das möchte sie lieber nicht beantworten.

angst vi
Hongkong.
Seit der Protestniederschlagung 2019 herrscht eine depressive Stimmung unter den progressiven Menschen der Gesellschaft. Viele Menschen sitzen im Gefängnis oder sind ins Ausland gegangen. Viele sind ohne Hoffnung, dass es einen Weg zurück zur Meinungsfreiheit gibt. Die neuen Sicherheitsgesetze greifen.
In einem Tempel komme ich mit einem Rentner ins Gespräch. Er war Übersetzer ins Japanische gewesen. Ob er mir ein Interview gäbe? Dazu möchte er erst die Götter befragen. Sie sollen entscheiden. Aber bevor er sie befragt wendet er sich zweimal mir zu, die Räucherstäbchen schon schwingend. Wirklich keine Politik?

angst vii
Taiwan
In Taiwan sprechen die Menschen frei. Ihre Angst vor einer Invasion Festlandchinas ist groß und bei den Äußerungen der Regierung in Peking berechtigt. Als ich in Fuzhou in Festlandchina in einem Museum über die Geschichte Taiwans lese, werden dort Aussagen Gelehrter früherer Jahrhunderte präsentiert, dass es auf Taiwan keine Einwohner gab bevor Chinesen aus der Region Fujian übersiedelten. Eine geschickt platzierte Geschichtsfälschung.

angst viii
Südkorea (DMZ)
In die Demilitarisierte Zone zwischen Nord- und Südkorea geht es nur mit einer Gruppe. Zuerst passieren wir einen Checkpoint mit Südkoreanischen und US-Amerikanischen Soldaten. Nach einigen Stationen kommen wir an den Eingang eines Infiltrationstunnels, der von Nordkorea gegraben worden sein soll. Wir schließen alle unsere Habseligkeiten ein, auch die Smarthones und gehen siebzig Meter in die Tiefe, bevor wir im eigentlichen Tunnel sind. Einer nach dem anderen gehen wir zu einer Betonwand mit einer kleinen Glasscheibe, durch dir wir auf die nächste Betonwand schauen. In der Mitte wachsen im grellen Tunnellicht mystische Pflanzen. Nun sind wir wirklich unterhalb der Demarkationslinie.

angst ix
Russische Föderation.
Ich sitze in der Transsibirischen Eisenbahn und bin auf dem Weg von Wladiwostok zum Baikal. In meinem Abteil sind zwei Ölarbeiter und ein Busfahrer für das Militär. Keine Politik! Sagt einer der Arbeiter ganz am Anfang. Als später der Fahrer damit beginnt unterbricht er ihn schnell. Man wisse nicht, wer zuhöre. Agent! Ruft er immer wieder und zeigt auf jeden, die/der am Abteil vorbei geht. Agent! Er versucht einen Spaß daraus zu machen, jedoch sehe ich die Angst deutlich in seinem Gesicht.